Jana Eckstein-Petersen

Mit dem Bummelzug ans Ziel

Ein Zug kann Urgewalten entfesseln. Das muss er auch, denn um seine Passagiere ans Ziel zu bringen, legt er weite, beschwerliche Strecken zurück. Er klettert Berge hinauf, rast wetternd durch Tunnel oder überquert auf langen Brücken reißende Flüsse. Er kämpft sich voran, wenn Donner und Blitze krachen oder starke Winde an seinen Waggons zerren. Die Eisenbahn fährt immer weiter, reißt unaufhörlich, robust und mit gewaltiger Kraft Kilometer für Kilometer der ihr vorgegebenen Gleisstrecke ab. Die Krefelderin Jana Eckstein-Petersen teilte diese Eigenschaften mit dem geschichtsträchtigen Fortbewegungsmittel: Zielstrebig, fokussiert und immer unter Hochdruck verfolgte sie stets ihre ambitionierten Ziele. An eine Rast, eine Pause zur Regeneration dachte sie dabei nicht. Aber wie eine Eisenbahn entgleist, wenn sie mit Vollgas in eine Kurve rast, oder wie ihr Kessel explodiert, wenn der Lokführer unaufhörlich Kohlen hineinschaufelt, so trug es auch die ehrgeizige Jana Eckstein-Petersen aus der Bahn. Und weil sie es gewohnt war, wie ein ICE durch die Welt zu rasen, musste sie sogar zwei solcher Katastrophen erleben, bevor sie verstand, dass eine Veränderung erforderlich war, wenn sie nicht vorzeitig auf dem Abstellgleis landen wollte.

Das erste Zugunglück ereignete sich an einem Tag im Oktober 2006: „Ich war damals bereits seit 20 Jahren selbstständig. Jeden Tag schuftete ich körperlich hart in meiner eigenen Schreinerei und verwaltete gleichzeitig noch Angestellte“, erinnert sich die schmale Frau mit den langen grauen Haaren. „Nebenbei sanierten wir ein Haus in der Krefelder Innenstadt. Das war irgendwann einfach zu viel für meinen Körper.“ Mitten auf der Baustelle gaben die Beine der Schreinerin nach und sie sackte in sich zusammen. Wie eine Schildkröte auf dem Rücken lag sie da, war weder fähig, Arme und Beine zu bewegen, noch um Hilfe zu schreien. Im Krankenhaus dann die Diagnose: Schlaganfall. „Ich habe sofort verstanden, was das bedeutete“, erzählt Eckstein-Petersen. „Dass mein altes Leben ab diesem Punkt vorbei sein würde.“

Der rechte Arm war völlig gelähmt. Die Hände, mit denen sie sonst so filigrane Holzarbeiten und Maßanfertigungen umsetzte, gehorchten ihr nicht mehr. Einfachste Laute kamen ihr nicht mehr über die Lippen, Buchstaben wollten sich nicht mehr sinnhaft zusammenfügen. Bei klarem Verstand waren Eckstein-Petersen plötzlich alle Möglichkeiten zur Kommunikation genommen worden. „Dass mein Körper nicht mehr der war, den ich kannte, überforderte mich eh schon, aber mich darüber mit niemandem austauschen zu können, war das Allerschlimmste“, beschreibt sie. „Ich war wie gefangen in mir, gefangen in einem Albtraum.“


Aber aufzugeben und liegenzubleiben, war für die Kämpferin keine Option. Gezwungen vom eigenen Antrieb, trainierte sie fieberhaft, um wieder Geschwindigkeit aufzunehmen. Nach zwei Monaten zwischen Hoffen und Bangen gelang es ihr, das erste Wort zu sprechen. „Es war ,Pils’“, erinnert sie sich und lacht laut. „Ich trinke eben gern Bier.“ Einige Monate später waren Sprache und Beweglichkeit wieder so weit ausgebildet, dass die 47-Jährige zurück nach Hause durfte. Ihr Alltag war nun aber still und strukturlos. War die Schreinerin früher schon mit dem ersten Schritt aus ihrem Bett im Arbeitsmodus, fehlten ihr nun auf einmal die Aufgaben. „Das Privatleben funktionierte, denn ich habe einen tollen Mann und sehr gute Freunde“, sagt sie. „Das Problem war die Zeit, in der ich allein war. Da fühlte ich mich nutzlos.“ Die Hände konnte sie nun zwar wieder halbwegs benutzen, in alter Form aber war die inzwischen 48-Jährige noch lange nicht. „Ich hatte das Gefühl, dass meine Therapie mich nicht mehr voranbrachte“, erklärt sie. „Ich musste mich irgendwie selbst herausfordern. Und da fiel mir unsere alte Modelleisenbahn wieder ein.“

Schon als Kind liebte es Eckstein-Petersen, mit ihren großen Brüdern und ihren Eltern am Wochenende mit der alten H0-Eisenbahn zu spielen. Gemeinsam mit ihrer Mutter kümmerte sie sich in mühsamer Kleinarbeit um die Gestaltung der ausgedachten Szenerie, während die Männer der Runde über den technischen Komponenten tüftelten. Mit der Selbstständigkeit, der Ehe und den Alltagsverpflichtungen einer erwachsenen Frau geriet die Eisenbahn in Vergessenheit und landete irgendwann gut verpackt auf dem Speicher. Nun aber war der Moment gekommen, sie wieder herauszukramen. Die Eisenbahn sollte das Projekt sein, das die ehrgeizige Frau so dringend brauchte, um wieder ein Ziel im Blick zu haben. Mit aller Konzentration, die sie nach dem Schlaganfall aufbringen konnte, und mit höchster Disziplin im Umgang mit ihren Händen, die an manchen Tagen noch immer wie ein Fremdkörper an ihren Gliedmaßen baumelten, begann sie, Stück für Stück eine traumhafte Eisenbahnlandschaft aufzubauen – und dabei auch die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerobern. „Das Projekt half mir ungemein, meine Feinmotorik zu schulen“, erklärt sie. „Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass ich endlich wieder für irgendetwas gut war. Gestaltung und Handwerk waren früher mein Leben. Ich begriff, dass das irgendwie wieder so sein könnte, nur eben auf andere Art und Weise.“

Zwei Jahre brauchte Eckstein-Petersen, um im eigens eingerichteten Apartment im Hinterhof des Hauses ihre H0-Eisenbahn-Welt entstehen zu lassen. Zwei Jahre, die ihr von der Krankenversicherung gegönnt worden waren, um sich vor dem Wiedereinstieg in den Beruf neu zu orientieren. Während sie ihre Finger noch an der Eisenbahn trainierte, überlegte sie bereits wieder, wie sie die alte Passion im Schreinereiwesen zukünftig würde ersetzen können. „Ich kam nicht wirklich zu einer Lösung, musste aber Geld verdienen. Und so begann ich, Fenster zu verkaufen und zu reparieren“, erinnert sich die Krefelderin. Weil es nicht ihr Stil war, mit halber Kraft zu arbeiten, verausgabte sie sich in ihrem neuen Beruf total, ohne Rücksicht auf den immer noch geschwächten Körper. Musste sie Fenster einsetzen, brauchte sie ihre gesamte Kraft, um diese zu transportieren und auszurichten. Tag für Tag wurde die Arbeit zu einer größeren physischen wie psychischen Belastung. Die Notbremse zu ziehen, kam für die Schlaganfallpatientin aber nicht infrage. Für Kapitulation oder Niederlage gab es in ihrem Leben keinen Raum. Und so schaufelte sie unaufhörlich weiter Kohle in den Kessel, um das Tempo halten zu können. Bloß nicht zum Stillstand kommen, immer den Schwung halten, um auch die nächste Bergkuppe noch zu bewältigen, die sich vor ihr auftürmte, und die nächste, und die nächste. Ihr einziger Ausgleich: das Wochenende mit ihrem Mann im Garten. Dort begann sie nach dem abgeschlossenen H0-Eisenbahn-Projekt eine neue Bahnlandschaft entstehen zu lassen.

Gartenbahnen sind selten in Deutschland. Während die H0-Eisenbahn noch in vielen Kellern ruht, haben nur wenig Menschen wirklich Platz für eine Gartenbahn auf dem eigenen Grundstück. Dementsprechend wenig Bauteile gibt es, um eine individuelle Welt zu erschaffen. Eckstein-Petersen nahm das als Herausforderung: Aufwändig baute sie sich einfach selbst Elemente für ihre Gartenbahnlandschaft. „Sie war jetzt mein Zufluchtsort“, beschreibt sie. „Das Schöne an einer Modellbahnlandschaft: Sie wird niemals fertig. Ich hatte also immer wieder neue Aufgaben.“ Eckstein-Petersen goss kleine Steine, um Häuser zusammenzusetzen, zimmerte Dächer oder gestaltete in liebevoller Kleinarbeit Fassaden und Details. Im eigenen Hinterhof entstand so eine ganz eigene Welt: Ihr Zug fährt ratternd am Bahnhof „Et Bröckske“ entlang, sucht sich seinen Weg an einem modernen, kubistischen Bungalow mit offenen Fenstern und Dachbegrünung vorbei – „mein Traumhaus“, sagt Eckstein-Petersen lachend – und macht anschließend in einer kleinen Altstadt mit Fachwerkhäuschen und einem wunderschönen Ausblick auf ein Bergpanorama Halt. Im Modellbiergarten trägt eine Kellnerin ein großes, schweres Tablett voller Gläser – natürlich Pils. In der märchenhaften und detailreichen Landschaft, die die Krefelderin erschaffen hat, kann man sich sich stundenlang verlieren.

Mit der Anschaffung eines 3D-Druckers eröffneten sich noch einmal ganz neue Kreativwelten – und jene Geschäftsidee, die der Rekonvaleszenten zuvor gefehlt hatte. Eckstein-Petersen erstellte historische Straßenlaternen, Ampelanlagen und Baustellensicherungen im Miniaturformat. „Meine erste selbst entwickelte Lampe war die typische Pilzleuchte, die vor meinem Elternhaus steht“, erklärt sie. „Besonders hatten es mir die Lampen aus dem Osten Deutschlands angetan.“ So entwarf die Bauteilarchitektin zum Beispiel eine ganze Reihe unterschiedlicher Lampen im Modell „Leipziger Tropfen“ oder eine jener Gasaufsatzleuchten, die früher oft in der DDR zu finden waren. „Ab 2014 bot ich diese Bauteile einem Händler an und eröffnete gleichzeitig einen Onlineshop“, erinnert sie sich. „Das Geschäft begann zu laufen.“ – Aber eben nur nebenberuflich. Die Weichen leitete Eckstein-Petersen weiterhin auf das Hochgeschwindigkeitsgleis. 

Für Gartenbahnen erstellt Jana Eckstein-Petersen in mühevoller Handarbeit Straßenlaternen, Ampelanlagen und Baustellensicherungen: Besonders Laternen aus der ehemaligen DDR haben es ihr angetan.

Und so rutschte Eckstein-Petersen in ihrem Beruf immer tiefer in die unbarmherzige Abwärtsspirale aus körperlich harter, aber im Kern unbefriedigender Arbeit und viel zu wenig Erholung und Ausgleich. 2018 stieß ihr Zug eine letzte Rauchwolke aus und kam schnaufend zum Erliegen. „Meine Psyche versagte“, begreift sie heute, was damals passiert war. „Ich hatte den Schlaganfall einfach nicht verarbeitet.“ Sich einzugestehen, dass ihr Körper das gewohnte Tempo nicht länger halten konnte, zu verstehen, was in ihrem Inneren tatsächlich vorgegangen war, diese veränderte Lebenssituation zu akzeptieren und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen, war der damals 59-Jährigen einfach nicht möglich gewesen. „Acht Monate ging ich in eine Klinik und arbeite an mir“, erinnert sie sich. Die Schreinerarbeit hing sie nach der Therapie vollkommen an den Nagel, konzentrierte sich ganz auf den Verkauf ihrer Gartenbahn-Bauteile – mit zunehmendem Erfolg. „Ich war zum ersten Mal wieder richtig glücklich“, lacht sie. Ihre Pakete mit den ganz ohne Hektik und Druck, dafür aber mit viel Geduld und Liebe gefertigten Teilen schickt sie inzwischen nach ganz Deutschland, häufig in den Osten. „Während der Teilung hatten die Ostdeutschen keine Möglichkeit, Modellteile aus dem Westen zu kaufen“, erklärt sie. „Dort warten noch viele Bahnen darauf, fertig gebaut zu werden.“ 

Auch die 61-Jährige baut weiter an ihrer Gartenbahn, aber sie hat es nicht mehr so eilig. Ihr Zug fährt heute auf ruhigeren Strecken und in gemütlicherem Tempo. Geduld und Beharrlichkeit sind vielleicht nicht der schnellste, dafür aber ein bedeutend sichererer Weg zum Ziel als halsbrecherische Geschwindigkeit unter dauerndem Hochdruck. Früher gab es keine Zeit für Pausen, das Innehalten und den Blick zurück, das ist heute anders. Da hält der Zug von Jana Eckstein-Petersen auch schon einmal außerplanmäßig an, wenn er an einer besonders malerischen Stelle vorbeikommt. Der Lokführer steigt dann aus, schaut sich um und lässt sich überraschen, von dem, was vor ihm liegt, genießt, was sie geschafft hat. „Ich kann ehrlich sagen“, schließt Jana Eckstein-Petersen, „dass nun die schönste Phase meines Lebens angebrochen ist.“

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